Einen kleinen Moment
Inside Spezial, Nummer 16 vom 23.03.2018, Rainer Kalesse im Interview
Übergroße Präsentationen, ungenutzte Chancen aus der Zulieferindustrie und das Problem mit der Vielfalt: Rainer Kalesse, lange Jahre Produktdesigner bei Nolte Küche, seit März 2017 mit einem eigenem Designbüro selbstständig, sagt, wie es ist: Vieles könnte für die Branche besser laufen, wenn der Mut zum Risiko größer wäre. Mut zum Risiko braucht er aber auch hin und wieder selbst. Für 2017 kann er mit seinem neugegründeten Designbüro eine gute Bilanz ziehen und erwartet, dass es für 2018 ebenso gut läuft. Derzeit arbeitet Kalesse an einigen Projekten, beispielsweise an einer neuen Leuchte, auch an Konzepten für den Online-Möbelhandel. Und er hat seinen Namen als Marke angemeldet.
INSIDE: Herr Kalesse, die Stimmung im Möbelhandel ist eher durchwachsen als euphorisch. Was wäre aus Ihrer Sicht nötig, um das Möbelgeschäft wieder zu beleben?
Rainer Kalesse: Was dem Möbelhandel wirklich fehlt, ist das Thema Realitätsnähe, den Kunden im Prinzip da abzuholen, wo er Lösungen benötigt. Und dass man die Wohnung wirklich als Lebensraum präsentiert. Um es auf eine ganz grobe Formel zu bringen: Es muss wieder mehr Lust auf Möbel gemacht werden.
Gibt es Beispiele, wo es funktioniert?
Da gibt es nur ein gutes Beispiel, das ist Ikea.
Was machen die anderen falsch?
Häufig wird im Möbelbereich das Möbel nur auf die äußere Hülle reduziert. Die dahinterstehenden Ideen und Innovationen kommen meist beim Endkunden gar nicht mehr an. Schauen Sie auf die Hersteller: Die geben zwar viel Input, am Ende wird das gegenüber dem Endkunden kaum kommuniziert.
Also sehen Sie das Problem primär schon im Handel?
Ich sehe es einzig im Handel. Man nehme nur Ikea, die Beispielwohnung, die man dort finden kann. Ikea kann auf 67 Quadratmetern, ganz realitätsnah, einen Raum für eine Familie abbilden, mit Kinderzimmer und allem, was dazugehört, inklusive der Accessoires. Wenn Sie bei einem klassischen deutschen Möbelhändler schauen, beispielsweise im Bereich Schlafen, dann stehen dort die Betten einfach in der Reihe. Das ist nicht ansprechend.
Läuft das in anderen Segmenten besser?
Nicht unbedingt, in der Präsentation von Küchen sieht man oft, dass die Küchenr.ume, auch bei den letzten Präsentationen, wie zum Beispiel bei Messen, immer gigantischer werden. Die echten Küchenr.ume sind im Schnitt immer noch zwischen acht und zwölf Quadratmetern groß. Dabei ist ein Planer bei der Planung eines kleinen Raumes ganz anders gefordert.
Ähnliche Anmutungen findet man ja auch in vielen Wohnzeitschriften.
Ich finde, dass das teilweise für den Endkunden sogar frustrierend ist. Und wenn man sich eine Küchenausstellung im Handel ansieht, dann gibt es Ausstellungen mit bis zu 300 Musterküchen. Das ist unnötig. Der Kunde findet ja kaum noch eine Küche wieder, die er mal für sich entdeckt hat. Wenn man sich jetzt die Ikea-Häuser anschaut, sind da maximal 20 Küchen präsentiert. Das macht wirtschaftlich Sinn: Ikea hat rund 50 Standorte in Deutschland. Dann sind das 1.000 Musterküchen. Schauen Sie mal, was die Küchenhersteller an Musterküchen im Handel stehen haben, bei manchem dürften es 20.000 Musterküchen sein. Das kann wirtschaftlich nicht sinnvoll und zielführend sein.
Eine andere Frage ist, wie viel von der Innovationsfreude der Zulieferer überhaupt im Handel ankommt?
Beim Endkunden kommt die ja gar nicht an. Der Endkunde hat teilweise keine Chance, solche Dinge zu erwerben, weil sie gar nicht gelistet werden. Dabei kann man ganz eindeutig sagen, dass die Zulieferindustrie viel innovativer ist als die Möbelindustrie.
Ein Grund dafür kann sein, dass die Möbelindustrie unter anderem inzwischen teilweise so wenig Geld verdient, dass sie nichts Neues mehr wagt. Das ganz große Problem in der Möbelindustrie ist, dass Innovationen als Risiko gesehen werden und nicht als Chance. Gilt das für große und kleine Hersteller gleichermaßen? Ich glaube sogar, dass gerade kleinere Hersteller derzeit ihre Chancen besser nutzen, Ballerina zum Beispiel oder Rotpunkt. Und die Rolle der Großen wie Nobilia beschränkt sich darauf, die Kapazitäten auszubauen und Druck auszuüben? Naturgemäß haben die Großen immer eine gewisse Macht, die auch durch die Möbeleinkaufsverbände gestärkt wird. Was Nobilia betrifft, muss ich ganz ehrlich sagen, die Entscheidung zum zweiten Standort ist für mich irgendwie schwer nachzuvollziehen. Denn aus meiner Sicht war die bisherige Stärke von Nobilia die Konzentration auf gerade einen Standort, eine Kollektion und eine kleine, homogene Führungsmannschaft. Das scheint sich, zumindest aus meiner Perspektive, im Moment zu verändern.
Kehren wir zu den Zulieferern zurück. Wo sehen Sie da momentan spannende Themen?
360-Grad-Beschläge finde ich ziemlich spannend. Das ist auch so ein Thema, von dem ich behaupte, das wird dem Endkunden unheimlich gut gefallen. Am Ende steht jetzt die Frage, ob sich ein Hersteller dazu bekennt und das Thema dann auch im Markt richtig inszeniert. Dann ist natürlich Lacklaminat ein tolles Thema gewesen.
Gewesen?
Na ja, die Bedeutung steigt immer noch. Aber es gibt einige Hersteller, die im Moment bewusst versuchen, sich davon abzuwenden. Ich behaupte nach wie vor, das Beste an dem Thema Lacklaminat ist der Name. Der erzeugt eine Sicherheit, weil Lack bekannt ist als wertige Oberfläche und Laminat als gebrauchstauglich. Insofern legt sich der Endkunde bei dem Begriff Lacklaminat entspannt zurück und ist glücklich. Der Verkäufer genauso. Aber es gibt ja eben diese Vorbehalte.
Ist das Material denn wirklich so haltbar, wie versprochen wird? Da gibt es schon auch Zweifler.
Ich würde anders argumentieren. Aus Sicht des Endkunden ist Lacklaminat unter Umständen sogar gebrauchstauglicher als Lack. Wenn Sie beispielsweise kleine Kinder in Ihrer Wohnung haben, und die fahren mit ihrem Bobby-Car an irgendwelchen lackierten Möbelelementen vorbei und der Lack platzt ab, dann hat man darunter einen weißen Grundierlack. Das sieht relativ unansehnlich aus. Bei Lacklaminat gibt es keinen weißen Grundierlack. Da würde man das nicht sehen.
Wären bei Beschlägen Exklusivitäten ein Weg, mit denen Küchenhersteller sich besser differenzieren können?
Ich persönlich habe im Laufe meiner Berufsjahre meine Einstellung zur Exklusivität deutlich verändert. Exklusivität hat häufig den Nachteil, dass die Marktdurchdringung nicht so da ist. Ich halte es für viel wichtiger, dass man bei neuen Produkten einen gewissen Vorlauf hat. Exklusivität hat dazu einen ganz großen Nachteil. Als Hersteller kann ich meinen Vorlieferanten in die Pflicht nehmen und Exklusivität verlangen. Aber auch der Vorlieferant hat Wettbewerber, und die können dann ähnliche Dinge im Markt inszenieren
Welche Chancen bietet eigentlich die Digitalisierung bei der Lösung des Problems?
Die Küche, wie sie im Moment dargestellt wird, ist, glaube ich, für die Onlinevermarktung denkbar ungeeignet. Man braucht da einfach andere Möbelkonzepte. Das ist für mich als Gestalter auch eine total interessante und spannende Aufgabe. Wenn man ein bisschen modularer rangeht, kann das durchaus gelingen. Aber das wäre wirklich ein komplett neues Konzept.
Wie könnte so was aussehen?
Ich habe schon ein recht konkretes Konzept vor Augen. Aber dafür suche ich noch den richtigen Kunden.
Neue Möbelkonzepte sind ja derzeit eher Mangelware. Wo bewegt sich denn derzeit etwas, einmal durch die Trend-Brille geschaut?
Einfach ist generell immer besser. Aber die Funktionalität von Möbeln ist nach wie vor ein wichtiges Thema. Aber Multifunktionalität bedeutet natürlich nicht, dass das Möbel jetzt wie ein Technikelement daherkommt. Alles sollte einfach zu handhaben sein, und das Verändern des Möbels sollte auch Spaß machen.
„Das Beste am Thema Lacklaminat ist der Name.“
Also wird in dieser Hinsicht Vielfalt verlangt?
Der Kunde möchte Wahlmöglichkeiten. Aber die Möbelindustrie erschlägt ihn häufig mit zu viel Vielfalt. Das erzeugt eigentlich das Gegenteil: Verwirrung. Und Verwirrung erzeugt im schlimmsten Fall sogar Kaufzurückhaltung. Auch in der Küchenindustrie wird das Thema Vielfalt absolut übertrieben. Wenn ich jetzt ganz böse wäre, würde ich sogar sagen, man könnte fast von einem gegenseitigen Wettrüsten sprechen.
In welchen Bereichen sehen Sie da die Vielfalt übertrieben?
Wenn es beispielsweise um Dekore oder Frontausführungen geht. Wenn Sie einfach mal bei den Herstellern nachzählen, dann stellen Sie fest, dass es eigentlich keinen Küchenhersteller gibt, der weniger als 20 weiße Fronten hat. Das geht teilweise bis zu 30 weißen Fronten. Man braucht diese Vielfalt gar
nicht. Aber trotzdem will jeder bei jedem Materialsystem und in jeder Schattierung dabei sein. Ein Gegenbeispiel: Die kleinste
Kollektion und die größte Menge am Markt hat Nobilia.
Das Prinzip „Weniger ist mehr“ bleibt also das alte, große Trendthema?
Und die Tatsache, dass das alles immer globaler wird, auch durch die Medien. Und ich glaube, dass sich die Landesgrenzen immer weiter auflösen beim Hersteller. Es wird alles fließender und immer stärker miteinander vernetzt. Außerdem wird Wohnraum kleiner, damit müssen Möbel am Ende auch mehr leisten können; und auch da sind wir wieder bei dem Thema Multifunktionalität angelangt.
Und Sie sehen wirklich niemanden, der das Thema angemessen umsetzt?
Gerade im High-End-Bereich gibt es einen deutschen Hersteller, der sich bewusst auch mit kleineren Räumen auseinandersetzt. Weil der auch festgestellt hat, dass seine Klientel, und das ist wirklich im gehobenen Preisbereich, teilweise in Ballungsräumen wohnt, wo dann die Küche auch mal nur zehn oder zwölf Quadratmeter hat. Da hat jemand verstanden, wie’s geht und worum es geht.