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Möbel müssen intelligenter und multifunktional werden

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Möbel müssen intelligenter und multifunktional werden

Von admin

Rainer Kalesse im Interview mit Fachzeitschrift »der küchenprofi«, Juni 2017



RAINER KALESSE startete nach über 26 Jahren als Chefdesigner von Nolte Küchen im Frühjahr 2017 mit einem eigenen Büro für Design-Management in Lemgo. Sein Metier richtet sich auf das komplette Leistungsspektrum von der Produktidee über die Gestaltung und Vermarktungsstrategie bis hin zur Präsentation zur Verkaufsförderung auf Messen und am POS.

Nur marginale Verbesserungen oder doch die große Evolution: Was bewegt die Zulieferbranche im Zusammenspiel mit den Industriepartnern wirklich? »der küchenprofi« fragte Rainer Kalesse, erfahrener Chef designer bei Nolte Küchen und heute selbstständiger Coach in Lemgo, nach seinen Eindrücken von der Interzum und dem Nachhall für künftige Herausforderungen.

der küchenprofi: Am 19. Mai ging die Interzum erfolgreich zu Ende. Eine wegweisende Messe, denn Unternehmen der Zulieferindustrie sind immer auch Vordenker für die Industrie. Was hat Sie persönlich am meisten inspiriert, Herr Kalesse?

Rainer Kalesse: Die Interzum 2017 war auch für mich sehr beeindruckend. Ganz besonders in Bezug auf die Internationalität der Aussteller und der Besucher, aber auch was Impulse für neue Gestaltungsansätze, Materialien, Technologien und Beschläge angeht. Bei den Beschlägen zeigt sich, dass Lauf- und Schließkomfort bis zum Design inzwischen absolute Perfektion erlangt und auch das Thema Multifunktionalität breiter gespielt wird. Ebenfalls beeindruckend waren Bewegungssysteme für Funktionsmöbel, wie beispielsweise „Qanto“ der Firma Ninka, die Stauraum mit Ergonomie verbinden. Zum Thema Ökologie hat das Unternehmen 3B aus Italien ein spektakuläres und zukunftsträchtiges Konzept vorgestellt: das Recycling von PETFlaschen zur Verwendung für hochwertige Folienfronten. Gerade mit Blick auf die Materialien steht die Branche unter einem enormen Verdrängungswettbewerb. Hier sind gute Ideen und neue Ansätze gefragt. Das beste Beispiel aus meiner Vergangenheit bei Nolte Küchen ist das »Lacklaminat«, dessen Namen ich vor etwa vier Jahren selbst geprägt habe und das sich in der gesamten Branche zu einem echten Boom entwickelt hat. Doch verbunden mit einer Preisaggressivität, die nicht nötig gewesen wäre. Da dieses hochwertige Materialsystem nun ganz unten angekommen ist, braucht es neue Themen, die eine bessere Wertschöpfung für alle Beteiligten bieten. Bei Oberfläche und Haptik gibt es meiner Meinung nach aber keine herausragenden Neuentwicklungen. Die Materialität in Bezug auf Holz- und Steinanmutung scheint nahezu ausgereizt zu sein.

der küchenprofi: Was sehen Sie als die Megatrends im Küchenbereich?

Rainer Kalesse: Megatrends beschränken sich nicht nur auf Form und Farbe, sondern die Möbel müssen mehr Leistung bringen. Das heißt: Sie müssen intelligenter und multifunktionaler werden. Als kleines, innovatives Beispiel sei hier nur der 360-Grad-Beschlag für Thekenelemente der Firma Pöttker genannt. Ebenfalls beeindruckend waren Bewegungssysteme für Funktionsmöbel, die Stauraum mit Ergonomie verbinden und ein hohes Maß an Begehrlichkeit versprechen. Was das Design vom Grundsatz her betrifft: Die reinen eckigen und flächigen Fronten bekommen Gegenwind. Detailarbeit und Prägnanz durch Formen, Rahmen und dekorative Akzente halten wieder Einzug in die Möbellandschaft. Hier sei nur beispielhaft die Kantenausführung »Diamond Cut 22,5°« von TZ Österreich genannt. Alles wird deutlich wohnlicher.

der küchenprofi: Die Diversifikation im Angebot und damit das Spektrum von Stilen und Gestaltungsmöglichkeiten für die Industrie wird dabei immer größer. Ist dies heute für den Möbelbau und -verkauf wirklich so wichtig oder eher ein Irrweg?

Rainer Kalesse: Den extremen Ausbau der Diversifikation halte ich für den absoluten Irrweg. Die größte Aufgabe für die Möbelindustrie – mit Betonung auf größere Industrieunternehmen – ist hier, mittels einer intelligenten Kollektionsentwicklung neue Möglichkeiten zu kreieren. Dies ist eine sehr anspruchsvolle Heraus for derung und verlangt eine intensive Auseinandersetzung. Die übertriebene Produktvielfalt gerade der Küchenm.belindustrie könnte man dagegen auch als Wettrüsten untereinander bezeichnen – sie führt allerdings beim Konsumenten eher zu Verwirrung oder gar zu Kaufzurückhaltung.

der küchenprofi: Individualisierung muss sich für die Hersteller vor allem wirtschaftlich rechnen. Kann dies zum Vorteil für kleinere und mittelständische Betriebe werden?

Rainer Kalesse: Die Flexibilität kleinerer Unternehmen kann ein Vorteil sein, muss es aber nicht. Denn immer zählt das Gesamtmanagement und ob eine Idee mit der richtigen Konsequenz ver folgt wird. Individualisierung ist eine große Aufgabe für alle Industrieunternehmen, jedoch wird diese heute fast ausschließlich in Quantität und Vielfalt gemessen. Aus meiner Sicht hat dagegen der Leitsatz von Ikea-Gründer Ingvar Kamprad »Aus weniger mehr machen!« immer noch Gültigkeit. Letztlich geht es also um intelligente und konzeptionelle Produktentwicklung, die ein hohes Maß an Individualität bietet, die Vielfalt allerdings nicht erhöht.

der küchenprofi: Vielfalt ohne größere Sortimentstiefe klingt schwierig. Wie lässt sich dies erreichen?

Rainer Kalesse: Man kann zum Beispiel Dekorkonzepte mit deutlich weniger Farben bzw. Dekoren entwickeln, die dennoch alle Möglichkeiten abbilden und durch eine intelligente Vernetzung verkaufsstarke Produkte generieren.

der küchenprofi: Vielfalt kann letztlich auch die Planer überfordern. Schöpft der Handel die Möglichkeiten überhaupt voll aus? Was ließe sich verbessern?

Rainer Kalesse: Genau das ist der entscheidende Punkt. Die Möbel- und Küchenm.belindustrie entwickelt permanent neue Produkte, ohne dem Planer entsprechende Anwendungsbeispiele und Unterstützung zu liefern. Der Möbelhandel hat die neuen Möglichkeiten kaum begriffen, da werden ihm schon wieder neue Möglichkeiten offeriert.

der küchenprofi: Früher war die Küche tonangebend für neue Entwicklungen – heute hat man den Eindruck, dass neue Impulse eher aus dem Wohnbereich kommen. Vor allem wenn man an den grifflosen Purismus der ewig weißen Küchen denkt. Würden Sie diese Meinung teilen?

Rainer Kalesse: Impulse kommen heute aus beiden Richtungen, weil die Bereiche immer stärker ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen. Früher war die Küche sehr technisch orientiert, heute kommen die wohnlichen Akzente dazu.

der küchenprofi: Glauben Sie zum Beispiel, dass nach den tendenziell »farblosen« Küchen mit den dominierenden Tönen Weiß, Schwarz oder Grau wie im Wohnbereich auch echte Farben künftig wieder mehr Chancen haben?

Rainer Kalesse: Echte Farben halte ich auch künftig nur angebracht für eine Akzentuierung. Allerdings würde ich den Grau-Trend nicht unterschätzen. Dieser stellt eine eindeutige Alternative zu Weiß dar und vermittelt einen erkennbar neuen Eindruck. Grau kann ebenfalls eine hohe Wertigkeit ausstrahlen und ist extrem kompatibel mit anderen Materialien. Das warme Grau vermittelt ebenfalls mehr Wohlfühlatmosphäre, als es das kalte und klinische Weiß vermag. Auch in der Architektur hat die Farbe Grau bereits große Kreise gezogen und steht für Modernität.

der küchenprofi: Die Technik versteckt sich heute „auffällig dezent“ im Hintergrund. Hat sich der Lehrsatz »Form follows Function« ins Gegenteil verkehrt?

Rainer Kalesse: Von diesem Lehrsatz halte ich relativ wenig, da beide Komponenten – Form und Funktion – immer im Einklang miteinander stehen müssen und schon bei der Entwicklung eines technischen Produktes das Design bereits in der Konzeptionsphase integriert sein sollte. Wirklich gutes Design zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es sich unterordnet und nahezu selbstverständlich daherkommt, also eine absolute Einheit aus Funktion und Optik bildet. Wirklich gutes Design – und damit meine ich Form und Funktion – ist zeitlos und damit wirklich langlebig, somit auch wirtschaftlich erfolgreich.

der küchenprofi: Einer der großen Trends ist außerdem, dass Kunststoffoberflächen die Natur immer perfekter nachbilden, ob Stein oder Holz, dabei sogar zusätzliche Vorbilder mitbringen. Ist also Authentizität nicht länger ein echter Mehrwert?

Rainer Kalesse: Gerade die Authentizität ist ein echter Mehrwert, denn die Holzoberflächen sind in den letzten Jahren über Druckbild und Oberfläche immer naturgetreuer geworden und vom Original fast nicht mehr zu unterscheiden. Der Mehrzahl der Konsumenten geht es nicht zwingend um das Original, sondern vornehmlich um den Materialausdruck und das sich damit verbindende Lebensgefühl. So werden Materialien bezahlbar oder wie beim Beispiel Beton überhaupt erst einsetzbar. Es geht heute also vor allem um Wertigkeit und Lebensgefühl, Atmosphäre und den entsprechenden Wohlfühlfaktor, ganz gleich, ob es sich hier um sogenannte echte Materialien oder um authentische Nachbildungen handelt.

»Die größte Aufgabe für die Möbelindustrie ist,

mittels intelligenter Kollektionsentwicklung

neue Möglichkeiten zu kreieren, ohne die

Produkttiefe zu erhöhen.«

der küchenprofi: Allgemein scheinen wir heute in einer Zeit der Widersprüche zu leben: Auf der einen Seite stehen Hightech und Urbanisierung, auf der anderen Sehnsucht nach Emotion und Landlust. Dies setzt sich fort mit Stauraumkomprimierung und schneller Küche gegenüber großzügigen Raumplanungen und Professionalität. Wie lässt sich dies alles auf einen Nenner bringen?

Rainer Kalesse: Alles polarisiert. Einheitliche Trends gibt es nicht mehr. Aber Technik ist das eine, Emotionalität das andere. Die Kunst wird es sein, die Möbel nicht mit Technik zu überfrachten, sondern nur so viel wie wirklich nötig zu integrieren. Die Elektrifizierung der Auszüge hat sich beispielsweise nicht durchgesetzt. Aber gerade hier bietet das Thema »Push to open« viele neue Möglichkeiten. Immer sollte dabei aus Kundensicht gedacht werden. Gerade so bieten sich viele neue Chancen, um Alltagsprobleme zu lösen, beispielsweise den Bedarf nach Stauraum oder nach mehr oder individuell nutzbarer, zusätzlicher Arbeitsoder Tischfläche zu befriedigen. Ebenso können die Möbel Mehrfachnutzen bieten und sie sollten Spaß machen!

der küchenprofi: Küche und Wohnen verschmelzen immer mehr. Lösen sich damit auch die traditionellen Strukturen in Handel und Industrie auf?

Rainer Kalesse: Küche und Wohnen verschmelzen eindeutig mehr und die Grundrisse verändern sich ebenfalls, sodass beide Bereiche mehr und mehr zusammenwachsen. Aber der Möbelhandel denkt und handelt immer noch in den klassischen Abteilungen – Küchen, Esszimmer, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Selbst die wenigen Möbelhersteller, die unterschiedlichste Möbel in ihrem Portfolio haben, schaffen die Vernetzung nicht beziehungsweise sehen keinen Sinn darin. Für mich ist dies vollkommen unverständlich, da der Kunde derselbe ist und die Vernetzung sogar Vorteile für den Kunden bieten könnte und

somit auch für den Hersteller. Wenn Möbelhersteller und Möbelhandel auf das Verschmelzen der Wohnbedürfnisse nicht reagieren – der Onlinehandel wird es vielleicht tun. Einzig Ikea hat hier einen meilenweiten Vorsprung. Das Unternehmen integriert vom Besteck bis zur Leuchte alle Wohnbedürfnisse in seinen Beispielwohnungen, die absolut realitätsbezogen dargestellt sind. Und löst Alltagsprobleme wie beispielsweise Stauraumlösungen und Multifunktionalität sehr pragmatisch. Die Küchenbranche dagegen geht allgemein häufig an den realen Gegebenheiten vorbei und plant Musterküchen von 20 qm und größer. Große Räume attraktiv zu gestalten, ist leicht, aber bei kleinen Grundrissen ist der Planer wirklich gefordert. Und gerade das Planen auf kleinem Raum wird in Zukunft zur wichtigen Herausforderung durch die demografischen Veränderungen.

der küchenprofi: Was glauben Sie, welche gesellschaftlichen Entwicklungen bestimmen das Produktdesign künftig am meisten?

Rainer Kalesse: Die Gesellschaft wird immer mobiler werden, alles ist im Fluss. Auch die klassische Familie wird immer seltener dauerhaft funktionieren. Somit wird die Wohnung als individueller Rückzugsort für den Einzelnen wichtiger und wertvoller werden. Die Küche öffnet sich noch mehr dem Wohnraum, wird noch mehr Lebensraum. Wohlfühlen und Identifikation zählen. Dazu wird der Wohnraum besonders in Ballungsgebieten immer knapper und teurer werden. Das heißt: Die Wohnungen werden nicht größer und die Möbel müssen somit immer intelligenter werden. Mehrfachnutzen, Multifunktionalität und Individualität sind angesagt. Die Möbel sollten also nicht nur permanent preiswerter werden, sondern mehr können und damit begehrlicher werden. Hier sind vor allen Dingen Unternehmer mit Herzblut und Visionen gefordert.

Heike Lorenz

Rainer Kalesse

Design Management

Breite Straße 38, 32657 Lemgo

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